Celeste



Sie verließ ihre Wohnung spät in dieser kalten Nacht, es war fast schon Morgen. Ihre Tür schloß sie ordentlich ab, aus reiner Gewohnheit, aber den Schlüssel ließ sie nach einigen Schritten wie beiläufig in einen Gully fallen.

Im künstlichen Licht der Laternen schien ihr blasses Gesicht weiß zu leuchten, und ihre hellen, wasserblauen Augen sahen unwirklich durchscheinend aus. Sie sah nicht menschlich aus, und in dieser Nacht lag ihr auch gar nichts daran, wie eine Sterbliche zu wirken.

Ihre Schritte waren lautlos auf dem feucht glänzenden Asphalt, und es bildeten sich keine weißen Wolken kondensierter Luft vor ihrem Gesicht, denn sie atmete nicht.

Sie war aus der Dunkelheit auf dem Weg ins Licht, als sie am frühesten Morgen am Fluß ankam.

Alle, die sie gekannt hatte, waren nicht mehr da- verzehrt vom sterblichen Alter, vom reinigenden Feuer der Inquisition oder von den Schwertern der Gegner. Einige Autos zogen ihre Lichtspuren auf der Flußuferstraße. Die ersten Vögel erwachten. Es würde der schönste Morgen der Ewigkeit werden.

Angst mischte sich mit Einsamkeit, als die Nahezuschwärze des Himmels von einem tiefen Blau abgelöst wurde. Eine blutige Träne zeichnete gedankenverloren eine Spur auf ihrer Wange. Sie umfaßte mit beiden Händen das gußeiserne Geländer der Ufermauer, auf der sie stand.

Sie hatte zugesehen, wie diese Mauer gebaut worden war. Das Metall war in dieser Dezembernacht kälter, als es ein Sterblicher längere Zeit ausgehalten hätte. Sie umfaßte es wie den rettenden Strohhalm, als würde sie es nie mehr loslassen; als hinge ihr Leben daran.

Aber ihr Leben hatte an etwas anderem gehangen, auch wenn ihr Körper schon seit dreihundert Jahren nicht mehr lebendig war. Ihr Leben hatte an Celeste gehangen, ihr Leben, ihre Geliebte, alles, was aus ihrem früheren Dasein mit ihr in die Welt der Dunkelheit gewechselt hatte.

An denen, die ihr Leben ausgelöscht hatten, konnte sie keine Rache nehmen- es wäre sinnlos, denn es würde Celeste nicht zurückbringen.

Eine zweite Träne hinterließ eine blaßrote Spur auf ihrem marmornen Gesicht. Wäre sie noch menschlich gewesen, hätte sie jetzt geschluchzt, aber das konnte sie schon lange nicht mehr.

Der Himmel wurde blasser und begann, sein tiefes Blau zu verlieren. Nur ein kleiner Moment, und das überirdische Kobaltblau hatte sie ganz verlassen. Es war wie ein letzter Blick von Celeste, es würde nie wiederkehren. Nie.

Der Gesang der Vögel, die den ankommenden Morgen grüßten, schwoll an, und sie konnte die ersten zarten Schimmer von Rot am Rande des Horizonts erkennen. Es kam ein wenig Wind auf, kalt und feucht, der wie zum Abschied noch einmal mit ihrem Haar spielte.

Würde Asche doch nur zu Asche gehen- sie hätte wenigstens die Gewißheit, ihre Liebste wiederzusehen, wieder mit ihr vereint zu sein, zuletzt- aber sie machte sich keine Illusionen, nicht mehr. Da würde nichts sein, gar nichts. Sie war eine Verdammte, warum sollte da etwas auf sie warten, sie war schon seit hunderten von Jahren tot. Und jetzt sehnte sich alles in ihr danach, nach dem Nichts, Oblivion.

Die Welt um sie herum war gealtert, hatte sich verändert, und sie war eigentlich immer die Gleiche geblieben. Wozu auch verändern, wenn man einander hat? Wenn man für die Ewigkeit miteinander verbunden ist, warum sollte man die Welt so ernst nehmen? Sie hatten sich beide nicht verändert, und nun war sie allein, und die alte, andere, fremde Welt hatte sie plötzlich eingeholt.

Die Welt hatte beschlossen, sie nicht weiter von ihr leben zu lassen; sie wurde vom sterblichen Alltag hinausgedrängt und nichts hatte ihr Celeste zurückgebracht.

Ihre Haut fing an zu prickeln, als das Morgenrot intensiver wurde und den ganzen Horizont in Blut zu tauchen schien- Blut, das ihr ein und alles gewesen war. Natürlich hatte sie Blut gebraucht, um sich zu ernähren, um überleben zu können- aber es war noch viel mehr gewesen, das Blut, das Celeste und ihr gehört hatte, das sie beide geteilt hatten, in einer nicht zu überbietenden Nähe zueinander- sie hatten alles miteinander geteilt- selbst ihre Seele.

Das Rot glühte, sie konnte fast die Sonne sehen, wie sie hinter dem Horizont nach oben drängte. Auch ihre Haut fing nun an, innerlich zu glühen. Das Eisengeländer war nicht mehr kalt an den Stellen, wo ihre Hände sich darum schlossen. Eine bleierne, lähmende Müdigkeit legte sich wie eine Decke um sie- sie sah starr geradeaus der aufgehenden Sonne entgegen.

Für ein Leben waren dreihundert Jahre zuviel gewesen, die Welt ließ sich nicht aufhalten.

Für zwei Leben gemeinsam waren diese Jahrhunderte viel zu kurz gewesen, um alles auszukosten. Alleine hatte sie nun ihren Teil der Welt bis zum letzten Tropfen ausgekostet, und nun würde sie sich verabschieden.

Die ersten Strahlen tauchten die morgendliche Stadt in unwirklich leuchtendes Licht, von tausend Fensterscheiben reflektiert. Die ersten Strahlen trafen ihr ungeschütztes Gesicht und ihre ungeschützten Hände und wurden nicht zurückgeworfen. Sie schien die Sonne aufzusaugen, jeden Lichtstrahl, als müsse ihr Körper verpaßte Jahrhunderte aufholen.

Die Hitze wurde unerträglich, und doch blieb sie stehen, ihr Blick fest auf den glühenden Ball der aufgehenden Sonne gerichtet.

Ihr Körper fing Feuer. Die Vögel in ihrer Umgebung verstummten, als das Feuer sie einhüllte und zuletzt auch ihre traurigen Augen verschlang.

Sie hatte noch kurz das Gefühl, etwas spüren zu können dort draußen, als würde sie ihren Körper verlassen- dann war die Sonne aufgegangen, und von ihr blieb nichts als Asche, die der kalte Wind durch das Eisengitter hindurch auf den Fluß trug.

(sandy 1294)